Das war... Reisen

Spanien 2019: Architektur in der Krise & darüber hinaus

Bericht der Reise nach Barcelona und Madrid, 5. bis 13. September 2019

Die Immobilienkrise ab 2007 ist hierzulande fast schon wieder vergessen. Ihre damaligen und fortdauernden Auswirkungen prägen das Leben vieler Menschen in Spanien aber bis heute. Das wollten wir uns näher anschauen und unternahmen unsere erste offene Reise, um Krise, politische Architektur und neue Stadtpolitiken vor Ort kennenzulernen und besser zu verstehen.

Als siebenköpfige Reisegruppe besuchten wir dafür zuerst Barcelona und im Anschluss Madrid. In der katalanischen Hauptstadt angekommen, beschäftigten wir uns zuerst mit den Rahmenbedingungen, die vor mehr als zehn Jahren zur Immobilien-, Finanz- und Hypotheken-, Schulden- und schließlich Wohnraum- und Demokratiekrise in Spanien führten.

Voller Gedanken um globales Wirtschaften und Krisen machten wir uns auf zu einem Streifzug durch das Quartier rund um den olympischen Hafen, um schließlich vorbei an Frank O. Gehrys fisch-ähnlicher Landmarke zum windigen Stadtstrand von Barcelona zu gelangen.

Später am Abend besuchten wir das erste Nachbarschaftsprojekt, Can Battló. Während einer zweijährigen Kampagne, taten sich immer mehr Menschen aus der Nachbarschaft zusammen, um dem Stadtteil „Sants“ mehr Grün, mehr Kultur und mehr Gemeinschaft zu verschaffen. Mit viel Energie und einem langen Atem gelang es ihnen schließlich, einen Teil der alten Fabrikhallen für Kulturprojekte zu bekommen, den sie seitdem unabhängig selbst verwalten.

Am nächsten Tag trafen wir ein Mitglied der Plataforma de los Afectados por la Hipoteca (PAH – Plattform der Hypotheken-Betroffenen), in der sich seit 2009 spanienweit Menschen organisieren, die aus ihren Wohnungen geworfen wurden oder kurz davor standen. Kurz darauf hatten wir dann das Glück, uns mit einem Vertreter von Barcelona en Comú austauschen zu können. Die Partei war 2014 aus der PAH und anderen gesellschaftlichen Initiativen und Gruppen entstanden, um der europaweiten Austeritätspolitik auf Stadtebene, also „munizipalistisch“ entgegenzutreten. Seitdem arbeiten sie an einem demokratischeren und inklusiveren Barcelona – und stellen nach ihrem Erdrutsch-Sieg 2015 mit Ada Colau sogar die Bürgermeisterin der Stadt.

Ortswechsel in Zeitlupe: Eine entschleunigende Busfahrt voller beeindruckender Bilder der in der Hitze glühenden Landschaft brachte uns zu unserem zweiten Reiseziel: Madrid. In der Hauptstadt angekommen, standen drei Besuche auf der Agenda: Das Campo de Cebada, die Tabacalera und das Atelier von Todo Por La Praxis.

Das Campo (dt.: Feld/Platz) war lange Zeit ein Markt im Herzen Madrids, bevor dort ein Schwimmbad errichtet wurde. 2009 sollte es schließlich einem Sportzentrum privater Investoren Platz machen – doch noch während des Abrisses erreichte die Immobilienkrise ihren Höhepunkt und machte diesem Plan einen Strich durch die Rechnung. Stattdessen stand die Fläche leer – bis 2011 Bürger*innen und Kulturschaffende das Heft in die Hand nahmen: sie schufen einen Freiraum zum Zusammenkommen, mit Kunst, Sport und Musik bis sie Ende 2018 das Projekt für abgeschlossen erklärten. Nach einem kurzen Besuch vor Ort, wo mittlerweile leider nur noch Spuren dieses mehrjährigen Experiments zu sehen sind, besuchten wir eine öffentliche Präsentation des Dokumentarfilms “El Emperador Desnudo” (dt.: Der nackte Herrscher / Des Kaisers neue Kleider). Uns faszinierten die kreativen Versuche der Engagierten, aus einem nackten Betonfundament eine kulturelle Plattform mit stadtweiter Strahlkraft zu machen – und ihr Mut in den Verhandlungen mit der Stadtverwaltung. Über dem gemeinsamen Abendessen in einer dominikanischen Gastwirtschaft tauschten wir uns anschließend noch mit einigen Aktiven des Projekts darüber aus, wie mensch Stadt “selbermachen” kann. Auch die ehemalige Fabrik Tabacalera begann 2011 nach jahrelangem Leerstand als zivilgesellschaftliches Kultur- und Kunstzentrum einen neuen Lebensabschnitt. Über Erreichtes und Zu-kurz-gekommenes dieses wirklich riesigen Projekts mit Dutzenden Ateliers, Werkstätten, Büros, Kellern und Sälen sprachen wir mit einem der Künstler, die dort ihre Werkbank haben.

Den Abschluss machte die Werkstatt von Todos Por La Praxis im Viertel Vallecas. Dieses Kollektiv von Architekten verbindet Kunst und städtische Interventionen mit der Unterstützung von Nachbarschaftsinitiativen. Von der Madrider Stadtregierung waren sie mit der Konzeption und der Planung des Nachhaltigkeitszentrums von MARES (dt.: Mobilität-Ernährung-Recycling-Energie-Sorgearbeit) beauftragt, um zukunftsfähigen innovativen Projekt- und Geschäftsideen wortwörtlich einen Raum geben zu können.

Mensch könnte noch so viel berichten und es wäre nie genug. Doch eins ist klar: Spanien ist sowieso eine Reise wert: Sonnige Stunden auf lebendigen Plätzen, spannende Stadträume und tolle Architekturen. Das gilt aber umso mehr, wenn wir uns mit seiner Politik und Gesellschaft beschäftigen, mit den Entwicklungen, die unter den Oberflächen schon seit einigen Jahren schwelen und vor Ort ein paar der interessantesten räumlichen Experimente Europas hervorgebracht haben. Da gibt es für uns noch viel kennenzulernen und zu verstehen. Das werden wir in 2020 wieder und weiter versuchen.

Weitere Informationen bei Ben und Niklas.